Blog Post

von Rudolf Hickel 11 März, 2020
Das Coronavirus widerlegt schlagartig die Ideologie von der nur wohlstandsstiftenden Globalisierung. Die gegensteuernde Politik muss sich nun einer dreifachen Krisenkonstellation stellen. Das über Menschen transportierte Coronavirus hat längst die Weltwirtschaft und damit auch Deutschland infiziert. In einigen Regionen Chinas kam es zum massiven Produktionsstillstand und damit zur Unterbrechung der Lieferketten. Darüber ist der Erreger auf die Wirtschaft in anderen Ländern übertragen worden. Diese virale Geißel widerlegt schlagartig die Ideologie von der nur wohlstandstiftenden Globalisierung . Vor allem durch deutsche Unternehmen genutzte Lohnkostenvorteile waren es, die zu dieser dramatischen Abhängigkeit von China geführt haben. In der aktuellen Corona-Pandemie besonders bitter, auch dringend gebrauchte Medikamente sind nicht in die Welt lieferbar. Diese Virus-Plage trifft die Wirtschaft auf der Angebotsseite . Produktionsstopps führen zu schrumpfendem Absatz und Erlöseinbußen. Die Gefahr einer nachfolgenden Finanzmarktkrise kommt hinzu. Bei Niedrigzinsen großzügig vergebene Bankenkredite können nicht mehr bedient werden und neue Kredite gibt es nicht. Dazu kommen die durch die Produktionskrise ausgelösten Kursverluste vieler börsennotierter Unternehmen. Allerdings geht der über Panik und im Herdentrieb angetriebene Absturz der Aktienindizes weit über die real-ökonomischen Einbußen hinaus. Schließlich lösen die sich vervielfachenden Einkommensverluste eine gesamtwirtschaftliche Nachfragekrise aus. Die gegensteuernde Politik muss sich dieser dreifachen Krisenkonstellation stellen. Allerdings taugt die Forderung nach einer neuen Zinssenkungsrunde durch die EZB wenig. Bei der EZB gibt es kaum noch Spielraum für eine erfolgreiche Senkung des Leitzinses von null auf minus. Selbst die bisherige Niedrigzinspolitik hat kaum zu einem deutlichen Mehr an Unternehmensinvestitionen geführt. Daher muss die Politik umso intensiver die Folgen der Produktionsunterbrechung mit gezielten Instrumenten überbrücken. Es geht darum, unverschuldet belastete Unternehmen nicht bankrottgehen zu lassen. Absoluten Vorrang hat die Begrenzung der weiteren Ausbreitung dieses Virus . Dazu gehören die vielen Kontroll- und Präventivmaßnahmen. Vor allem aber müssen Kliniken, Arztpraxen und die vielen anderen medizinischen Einrichtungen finanziell unbürokratisch unterstützt werden. Dazu gehört der Abbau der schon lange beklagten Personalengpässe im Gesundheitssystem. Eine Erkenntnis zur Struktur des Gesundheitssystems hat die Viruskrise schon produziert: Gebraucht wird ein flächendeckendes Angebot an Krankenhäusern vor allem mit öffentlich verantwortlichen, gemeinnützigen Anbietern – und keine weitere profitwirtschaftliche Privatisierung der Einrichtungen. In diesem Zusammenhang wurde bereits ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen. Dazu zählt etwa, das für „außerordentliche Verhältnisse“ eingeführte Kurzarbeitergeld für 24 Monate , das auch schon im Zuge der Finanzmarktkrise 2008/2009 eingesetzt worden war, sofort auf Antrag der Unternehmen unbürokratisch einzusetzen. Denkbar wäre auch, staatliche Programme und deren Finanzierung in einem föderal ausgerichteten Bundes-Sonderinvestitionsfonds „Anti-Corona-Programm (ACP)“ zu bündeln. Nach Aussagen des Bundesfinanzministers wären 50 Milliarden Euro schnell mobilisierbar und könnten bei Bedarf kreditfinanziert ausgeweitet werden. Daraus zu finanzieren wären dann Zahlungen an das Gesundheitssystem im Ausmaß der Zusatzlasten wie Quarantäne-Stationen einschließlich des Mehrbedarfs an Personal, aber auch die Übernahme der zusätzlichen Ausgaben, die mit dem Kurzarbeitergeld auf die Bundesagentur für Arbeit zukommen. Des Weiteren müssten damit Liquiditätshilfen und andere Überbrückungszuschüsse für besonders betroffene Unternehmen, Notkredite an Unternehmen und Zuschüsse für den Kapitaldienst sowie die Stundung von Steuerzahlungen für illiquide Unternehmen finanziert werden. Zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage könnte auch das ohnehin erforderliche „Zukunftsinvestitionsprogramm“ mit dem Schwerpunkt ökologischer Umbau vorgezogen werden. Wie also sollen die Kosten zur Bekämpfung der medizinischen und ökonomischen Folgen der Corona-Wirtschaftskrise finanziert werden? In Hongkong wird zur Stärkung der privaten Haushalte im Sinne von „Helikoptergeld“ ein Kopfgeld ausgezahlt. Diese Geldvermehrung setzt nicht an den Krisenursachen an und ist nicht nachhaltig ausgerichtet. Für Deutschland gibt es ein gesamtwirtschaftlich gut begründetes Finanzierungsinstrument für das „Anti-Corona-Programm“. Es ist die Aufnahme von öffentlichen Krediten. Jetzt kommt die Ausnahmeregel zur Schuldenbremse in Artikel 115 GG zum Zuge. Dort heißt es: „… Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden.“ Rudolf Hickel ist Forschungsleiter am Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen.
von Claudia Mauelshagen und Susanne Theisen-Canibol 24 Okt., 2019
Wer das Gegenüber nicht als ebenbürtig betrachtet und stattdessen erzieherisch oder/und manipulativ agiert, wird nicht überzeugen können. Das ist in der politisch-öffentlichen Kommunikation nicht anders als in der privaten. Das, was die Sender zu erreichen beabsichtigen, geht dann schnell nach hinten los. Es ist die Zeit der Schönen-Begriffe-Politik . Neue gesetzliche Regelungen und andere Vorhaben werden von den politischen Akteuren mit Begriffen wie „Starke-Familien-Gesetz“, „Gute-Kita-Gesetz“, „Respekt-Rente“, „Baukindergeld“ oder „Ehe für alle“ unters Volk gebracht. Diese Begriffsbildungen erwecken den Eindruck, dass die Politik die Bürger mit lauter Vorhaben beglückt, die geradewegs ins Paradies führen. Oder sollte man sagen, in ein neues, schön ausgestattetes Kinderzimmer? Denn solche Sprache infantilisiert die Adressaten. Zudem transportieren die niedlichen Blümchen-Begriffe keine neutralen Inhalte, sondern Inhalte, denen die Wertung bereits eingeschrieben ist. Die Begriffe reihen sich ein in das Prinzip einer Beeinflussung der Öffentlichkeit, die nicht aus der Kraft des Argumentes, der Debatte, des öffentlichen und offenen Diskurses heraus stattfindet, sondern aus der Kraft des manipulativen Wortes. Ziel ist die Identifikation des Adressaten mit den kommunizierten Inhalten und mit deren Urhebern. In diesen Kontext gehören auch andere Methoden, zum Beispiel das Framing , das durch das Framing Manual der ARD zu unseliger Berühmtheit gelangte. Oder die Bemühungen, neue Narrative zu schaffen, neue große Erzählungen etwa über Europa. Sie sollen die Menschen zur Identifikation mit Europa oder sagen wir besser der EU bringen. Über die sprachliche Einflussnahme hinaus geht das Nudging , eine Methode, mit der Adressaten zu einem gewünschten Verhalten hingestupst werden, durchaus auch so, dass sie gar nicht so genau mitbekommen, dass und wie sie zu diesem Verhalten gebracht werden. Schlägt sich der erzieherische, dominierende, manipulierende Habitus in der Kommunikation nieder, so entsteht eine asymmetrische Kommunikationssituation . Dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick zufolge bedeutet dies, dass ein superiorer und ein inferiorer Partner miteinander kommunizieren bzw. dass ein solches ungleiches Verhältnis in der Kommunikation hergestellt oder herzustellen versucht wird. Aus transaktionsanalytischer Sicht lässt sich in unserem Zusammenhang von einer Kommunikation aus dem Eltern-Ich heraus sprechen. Funktioniert das? Wir meinen: Es funktioniert über weite Strecken nicht. Denn: Bürger sind keine folgsamen Kinder, die sich paternalistischen Ambitionen fügen. Erwachsene und mündige Menschen durchschauen, was ihnen hier geboten wird – was zu allem möglichen, aber nicht zur Identifikation mit den politischen Akteuren führt. Bürger spüren die Asymmetrie, den erhobenen Zeigefinger, spüren, dass sie nicht für voll genommen werden – und rebellieren, opponieren, auf welche Weise auch immer und nicht immer unbedingt auf erwachsene Weise. So wird das Gegenteil dessen erreicht, was intendiert ist. Was es stattdessen bräuchte? Die innere Haltung und den Willen, demokratische Meinungsbildung durch echte und ebenbürtige Diskurse mit der Öffentlichkeit herzustellen. Mehr dazu finden Sie in unserem Whitepaper-Beitrag „Augenhöhe statt Manipulation“ (Seite 27 bis 39). Whitepaper zum Download
von Dr. Hans-Peter Canibol 17 Sept., 2019
Vor dreißig Jahren prophezeite der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, dass mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbrechen der sowjetischen Einflusszone und mit dem Triumph der liberalen Demokratie das Ende der Geschichte erreicht sei. In seinem neuen Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet „sucht Fukuyama nach Gründen“, so lesen wir auf dem Klappentext, der das Buch wunderbar zusammenfasst, „warum immer mehr Menschen sich von Autokraten angezogen fühlen und die Demokratie als gescheitert betrachten.“ Dabei gehe es weniger um materiellen Wohlstand als vielmehr um das Verlangen nach Würde. Der Autor „zeigt, warum die Politik der Stunde geprägt ist von Nationalismus und Wut, welche Rollen die linken und rechten Parteien bei dieser Entwicklung spielen und was wir tun können, um unsere Identität und damit die liberale Demokratie wieder zu beleben“. Fukuyama greift damit ein Thema auf, das viele bewegt, denen das gesellschaftliche Miteinander am Herzen liegt. Denn eines wird deutlich: Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist in Frage gestellt. Werte werden nicht mehr unbedingt geteilt. Leitmedien haben ihre Funktion verloren – ihre Position als vierte Macht im Staat wird angegriffen, manchmal sogar tätlich. Die alten politischen Kräfte verlieren an Einfluss. In größerem Rahmen Konsens herzustellen wird immer schwieriger. Man kann den Eindruck gewinnen, dass allein sportliche Großereignisse identifikationsstiftend sind, solche, hinter deren Erfolg mit weltweiter Bedeutung man sich versammeln kann. Aber auch das funktioniert nur noch in Grenzen. Was ist nur los mit uns? Die Zeiten, in denen dem Volk par ordre du mufti verkündet wurde, wie man sich gefälligst zu verhalten habe, sind lange vorbei. Heute sehen wir etwas, das mal mit Schwarmintelligenz, mal mit alternativen Medien, mal mit Community umschrieben wird. Die Bürger hinterfragen die Glaubwürdigkeit der etablierten Meinungsführer so kritisch wie noch nie und verlassen sich tendenziell eher auf das, was Menschen sagen, die sie kennen oder zu kennen glauben. Wie funktioniert Meinungsbildung in Zeiten einer atomisierten Medienlandschaft, in der Fakten und Meinungen miteinander verschmelzen und in der Meinungsbildner es zum Geschäftsmodell machen, mit der Spaltung der Gesellschaft zu spielen? Und wie wirkt sich Schwarmintelligenz aus? Verlagern sich Meinungsbildungsprozesse zukünftig auf eine Vielzahl von Communitys, die, geleitet durch nicht immer rationale Kriterien, ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder gemeinsame Identitäten entwickeln und diese als lautstarken Protest nach außen tragen, wie beispielsweise in Frankreich die Gelbwestenbewegung? Sie definieren sich durch ein unbestimmtes Unbehagen, beklagen Globalisierung und ein Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung, werden geeint durch eine vage Wut vor möglicherweise nicht recht einschätzbaren Lebensrisiken und Preiserhöhungen. Francis Fukuyama sagte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (03.02.2019): „Ein verrückt gewordener Nationalist oder ein islamischer Terrorist sind moralisch nicht zu verteidigen. Aber ich bin doch der Meinung, dass all diese Bewegungen sich in ihrer psychologischen Struktur ähneln. In jedem Fall geht es darum, dass Leute finden, ihre eigene Gruppenidentität erfahre unzureichende Anerkennung.“ Die sozialen Medien mit ihren speziellen Mechanismen machen es möglich, dass man sich ausschließlich in seiner Echokammer bewegen kann, in der die eigene Meinung bestätigt und verstärkt wird, andere Meinungen hingegen gar nicht mehr auftauchen oder als „Angriff“ angesehen werden. Noch bis vor wenigen Jahren erfolgten kommunikative Maßnahmen im politischen Raum auf der Basis von Meinungsforschung. Wahlergebnisse ließen sich relativ genau vorhersagen. Heute treffen Wähler ihre Entscheidungen mitunter erst kurz vor Abgabe der Stimmzettel in der Wahlkabine. Die Aufregung um das Video des YouTubers Rezo ist uns allen noch präsent – lassen wir mal dahingestellt, ob es wirklich das Wahlergebnis nachhaltig beeinflusst hat. Können Veränderungsprozesse heute rational, konfliktfrei und überzeugend erfolgen? Kann man die Mechanismen von professioneller Change-Kommunikation aus Unternehmen auf politisch-gesellschaftliche Prozesse übertragen? Was passiert, wenn Kommunikation nicht auf Augenhöhe stattfindet? Und welche Rolle spielen Wahrheit und Lüge für eine gelungene respektive misslungene Kommunikation? Die Debatte über diese Themen ist noch im Anfangsstadium. Unsere neue Publikation versucht das Terrain abzustecken und gibt Impulse für Lösungsansätze. Schauen Sie rein: Nachhaltige Kommunikation in unübersichtlichen Zeiten .
von Susanne Theisen-Canibol 27 März, 2019
Morgen ist wieder Girls’ Day oder „Mädchen-Zukunftstag“. Mädchen ab der 5. Klasse sollen an diesem Tag in Unternehmen und Betrieben Berufsfelder kennenlernen, in denen das weibliche Geschlecht unterrepräsentiert ist. Als die Idee entstand, ging es der Initiative D21 darum, Mädchen für die sogenannten MINT-Berufe zu begeistern und damit neue und zukünftig dringend gebrauchte Potenziale für die (digitale) Gesellschaft zu erschließen und sich abzeichnende demografische Lücken in Facharbeiterberufen auszugleichen. Immer wenn es auf den Stichtag zugeht, sehe ich Schülerinnen in der Innenstadt von einem Geschäft zum nächsten hasten mit der Frage auf den Lippen, ob man denn nicht dort einen Platz für sie habe. Und meine Nichte hatte die Idee, den Tag in einem Nagelstudio zu verbringen. Schülerinnen im Nagelstudio oder an der Seite von Verkäuferinnen zum Girls‘ Day – das ist keine Ausnahme und weit weg von den hehren Zielen und dem großen Tamtam, mit dem in Berlin der Tag unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin begangen wird. Als Kind fand ich es herrlich, mit meinen Spielkameraden – fast ausschließlich Jungs – in den Werkstätten ihrer Väter und Großväter rumzustöbern, ich interessierte mich für die Traktoren und Landmaschinen der Bauern (ein überwältigendes Glücksgefühl, mit 12 Jahren zum ersten Mal einen Traktor über das Feld zu fahren), wünschte mir mit sechs Jahren einen Konstruktionsbaukasten, bekam ihn auch und erfand in den folgenden Jahren allerlei Fantasiemaschinen, für die ich mittels Batterien Antriebe baute, reparierte Elektrostecker und Lampenanschlüsse. Keiner hinderte mich in den 1960er Jahren daran, die Welt außerhalb des familiären Akademikerdenkens zu entdecken. Ich lernte von meiner Mutter mehr über die große Welt der Botanik als jemals in der Schule (nur ihre Liebe zur Chemie ist an mir abgeprallt) und fand Mathematik spannend. Nach dem Abitur stand mir die gesamte Fächerwelt offen und ich entschied mich – für ein Musikstudium, eine damals mutige Entscheidung. Noch mutiger war es, sie zehn Jahre später – und erstaunlicherweise dann gegen Widerstände – wieder zu revidieren. In Deutschland fehlen perspektivisch nicht nur im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich die Fachkräfte, sondern sehr konkret auch in der Erziehung in Kindergärten und Schulen, in der Pflege und in vielen Handwerksberufen, die im täglichen Leben unverzichtbar sind und der Grundversorgung dienen. Und vor allem fehlt es an Mut. Am Mut der Frauen, sich etwas zuzutrauen. Am Mut, Entscheidungen treffen und wieder revidieren zu dürfen. Am Mut der Frauen, sich frei für oder gegen das Berufs- und Frauenbild in der eigenen engeren Umgebung entscheiden zu dürfen. Als ich vor zwei Jahren einmal in einer öffentlichen Veranstaltung zum Thema Frauenbild ein Plädoyer für die berufliche Selbstständigkeit von Frauen hielt, wurde ich dafür niedergemacht. Offenbar ist es selbst für einen Teil der Frauen, die das Etikett Emanzipation vor sich hertragen, undenkbar, dass die Freiheit der Frauen auch die ist, als Existenzgründerin oder Unternehmerin erfolgreich zu sein. Girls‘ Day sollte übertragen heißen: Mut zur eigenen freien Entscheidung. Für die eine kann das ein MINT-Beruf sein, für die andere der „klassisch“ pädagogische oder karitative Weg. Für die eine der Gesellen- oder Meisterbrief, für die andere die Forschungsstelle. Für die eine die Managerverantwortung in einer Organisation, für die andere das Unternehmertum. Die Schüleraktion CHEF für 1 TAG fördert genau das: sich selbst und die eigenen Stärken besser kennenlernen, sich etwas zutrauen, auch wenn die konkrete Vorstellung noch ganz weit weg ist. Das gilt übrigens für Schülerinnen genauso wie für Schüler .
von Hans Peter Canibol 26 März, 2019
Die westliche Zivilisation zeigt zunehmend Verfallserscheinungen: Die Bürger wenden sich von etablierten Parteien ab und rebellieren gegen ein System, das rund 70 Jahre ein friedliches Zusammenleben und einen in der Breite bislang nie dagewesenen Wohlstand bescherte. In den vergangenen Monaten erschienen sicher nicht zufällig eine Reihe hochinteressanter Publikationen, die das Unbehagen der Bürger und die Unzufriedenheit mit dem System, der Gesellschaft, der Globalisierung und den noch dominierenden Parteien analysieren. Hierzu gehören die Veröffentlichungen von Francis Fukuyama „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ oder auch von Paul Collier „Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“. Das findet nun mit Notker Wolfs „Das Unmögliche denken, das Mögliche wagen. Visionen für eine bessere Zukunft“ eine lesenswerte Erweiterung. Die zentrale Erkenntnis dieser Publikationen: Wertschätzung und Teilhabe sind unverzichtbar und von zentraler Bedeutung für das Zugehörigkeitsgefühl und die Integration in ein gemeinsames Ganzes. Bemerkenswert war für mich bei der Lektüre, dass der Gründer des Benediktinerordens bereits im Jahr 529 n. Chr. in den Ordensregeln vorschrieb, dass bei wichtigen Entscheidungen vom Abt eines Klosters erst der Rat aller Brüder eingeholt werden müsse, bevor er mit sich selbst zu Rate gehe. Das auch mit dem Hinweis, dass es – nun in meinen Worten geschrieben – oft die Jüngeren seien, die den Blick für eine bessere Lösung hätten. Wieso, so frage ich mich, ist es fast 1500 Jahre später immer noch so schwierig, nicht nur als junger Mensch das Gehör von Entscheidern zu erhalten und Veränderungen zukunftsfest und mit hoher Zustimmung herbeizuführen? Dabei geht es nicht nur um gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch um solche in Unternehmen. Das im Buch erwähnte 3i-Programm von Siemens steht als Beispiel für vergleichbare Initiativen in vielen Unternehmen. Gerade die digitale Transformation macht es unumgänglich, Wissen und Ideen von Mitarbeitern ernsthaft zu prüfen und in die Weiterentwicklung von Organisationen einzubeziehen. Viele haben die Zeichen der Zeit erkannt. Bleibt abzuwarten, was aus den Ergebnissen der vielen Labs, die derzeit installiert werden, herauskommt. Und wie schaut es mit Ideenpools für die Gesellschaft aus in Zeiten, in denen die Parteienmacht immer weiter abnimmt? Wo sind die Bürger-Labs, wo werden Anregungen ernst genommen? Wenn Notker Wolf dazu beiträgt, dass eine neue Kultur des Miteinander-die-Zukunft-Gestaltens entsteht, dann hat er einen wichtigen Impuls für unser Zusammenleben und unser Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben. Ich wünsche dem Buch viele nachdenkliche, neugierige und veränderungsbereite Leser aus Politik, Medien, Sozialwissenschaften, öffentlichen Institutionen und Unternehmen.
von Susanne Theisen-Canibol 07 Aug., 2018
Die Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, sieht die Zeit für Flugtaxis gekommen . Aber in den Regionen bleibt die Digitalisierung stecken, weil … Ja, warum? Warum nur tun wir uns in Deutschland mit der digitalen Welt so schwer? Die immer noch mangelhafte Versorgung mit Breitbandanschlüssen ist die eine Seite. Die andere Seite ist der fehlende Wille, die Digitalisierung als unabdingbaren Fortschrittsfaktor anzuerkennen. Statistisch besitzen Dreiviertel aller Bundesbürger ein Smartphone . Ganz selbstverständlich nutzen wir das bunte Angebot der Apps zu Information, Unterhaltung, Netzwerken, Fitness und vielem mehr. Und dennoch sehen viele nicht die Verbindung zwischen eigenem Handeln und Digitalisierung jenseits der Mediennutzung – in Produktion, Lieferkette, Service, Dienstleistung. Und Begriffe wie Künstliche Intelligenz werden im Reich der Science Fiction verortet. Alles nach dem Motto: Digitalisierung, das sind die anderen. Ein fataler Fehler. Wir befinden uns im Jahr elf nach der Einführung des iPhones. Im Januar 2007 hielt Steve Jobs auf der Macworld Conference & Expo ein kleines, flaches Ding in die Kameras: Das iPhone ließ Telefon, Computer und MP3-Player auf neuartige Weise miteinander verschmelzen. Multi-Touch-Screen, Apps – all das hat Schule gemacht. Andere Anbieter zogen nach. Der Paradigmenwechsel holte die Computerwelt aus der Ecke der Programmierer, der Wissenschafts-, Business-, Produktions- und Musikanwendung und verankerte sie tief in unserem Alltag. Mit den bunten Apps entwickelten wir neue Ansprüche: die Allverfügbarkeit von (fast) allem. Damit sind wir als Verbraucher inzwischen ein wichtiger Treiber der Digitalisierung. Wenn wir über das Internet Bestellungen auslösen, erwarten wir, dass die Ware innerhalb weniger Tage geliefert wird. Beim Hersteller lösen unsere Ansprüche weitreichende Strategie-, Arbeits- Entwicklungs- und Produktionsprozesse aus, über die sich die Wenigsten im Klaren sind. Immer noch meinen allzu viele Hersteller und Händler , sich in der digitalen Welt nicht behaupten zu müssen. Dabei spricht die zunehmende Verödung von Innenstädten eine unübersehbare Sprache. Und dort, wo die Welt noch zum Teil in Ordnung ist, wird sie es in schon naher Zukunft nicht mehr sein. Kein Verbraucher ist mehr auf den stationären Handel angewiesen. Selbst leicht verderbliche Lebensmittel werden schon tagesaktuell angeliefert. Und damit ist nicht der Pizzaservice gemeint. Und Extraservice gibt es auch noch: Zutaten für ganze Menüs werden inklusive Rezepte und Anleitung für die Zubereitung geliefert. Der Handel lässt sich weiter zurückdrängen, macht Platz für Dienstleistungen und Gastronomie. Werden unsere Innenstädte zunehmend ausschließlich Vergnügungsmeilen? Dann haben aber gerade die kleinen Städte ein Problem. Denn an das Angebot der nahegelegenen Zentren können sie nie heranreichen. Digitalisierung, das sind wir alle. Künstliche Intelligenz inzwischen auch. Sie hat in ihrer heutigen Anwendung mit Vorstellungen aus Science-Fiction-Filmen wie „I, Robot“ oder „Ex_Machina“ nichts zu tun. Dabei ist künstliche Intelligenz (KI) in unserem Alltag präsent. Gesichtserkennung ist künstliche Intelligenz, die auf maschinellem Lernen beruht, ebenso wie Kaufempfehlungen von Online-Plattformen oder die Navigation in Echtzeit. Was die Entwicklung von KI heute vorantreibt, ist die zunehmende Lernfähigkeit in Verbindung mit großen Datenmengen. So können in Unternehmen Vorgänge, die auf regelbasiertem Abarbeiten von Prozessen beruhen, zunehmend durch Robotik-Anwendungen ausgeführt werden, etwa im Controlling, in der Betriebssicherheit. Und Digital Farming hat das Potenzial, die Landwirtschaft von Grund auf zu verändern. Sensoren im Boden und Drohnen in der Luft machen datengestützte Handlungsstrategien möglich. Das kann zukünftig auch bei Hitzeperioden, wie wir sie gerade erleben, helfen, Missernten zu vermeiden. Das größte Problem aber ist: Weil wir das Extreme kulitivieren – unreflektierte Nutzung hier, totale Ablehnung dort, ganz zu schweigen von der gepflegten Unwissenheit digitaler Prozesse und Zusammenhänge –, tun wir uns mit der maßvollen, reflektierten, souveränen Nutzung schwer. Die aber wäre notwendig, um eine eigene Standortbestimmung vorzunehmen: Wie weit wollen wir die Digitalisierung in unser Leben hineinlassen? Digitale Angebote geben uns Werkzeuge an die Hand, unser Leben so individuell und vielleicht auch so gut zu gestalten wie nie zuvor. Damit stellt uns die Digitalisierung auch vor neue ethische Herausforderungen. Mit Smart Home oder Smart Health vertrauen wir das, was uns am wertvollsten ist – Haus, Wohnung, Gesundheit – Technologien an, die von Konzernen gesteuert werden, auf die wir als Einzelpersonen keinen Einfluss haben. Die Frage ist, wie wir uns und anderen Grenzen setzen in einer Welt scheinbar unbegrenzter technologischen Möglichkeiten. Es braucht Mechanismen, die Selbstbestimmtheit des Individuums in unsere heutige Zeit der Allverfügbarkeit von Dingen zu übersetzen, erst recht, wenn wir uns durch die neuen Technologien zunehmend selbst zum Objekt machen. Deshalb geht Digitalisierung uns alle etwas an.
von Claudia Mauelshagen 13 März, 2018
"Kommunikation im 21. Jahrundert: 21 Perspektiven auf die Digitalisierung" heißt die neue Dauerausstellung, die seit einem halben Jahr das Angebot des Frankfurter Museums für Kommunikation bereichert. An einzelnen Video-Stationen kann man sich 21 Statements von Experten unterschiedlicher Couleur zu verschiedenen Aspekten der Digitalisierung anhören und anschauen. Das Schöne an der Ausstellung ist, dass sie die Thesen, Einschätzungen, Gedanken, Prognosen versammelt, ohne dass eine Synthese dabei herauskommt. Einige Statements ergänzen sich, andere widersprechen sich, manche sind Einzelgänger, Kommentierungen der Ausstellungsmacher gibt es nicht. Und eben deshalb lässt sich auf dem Sofa im Museumscafé bei Capuccino und Brownies mit meiner Kollegin wunderbar weiterdenken und diskutieren: Wie hat sich unsere Alltagskommunikation im Zuge der Digitalisierung verändert? Wie wird sie sich weiter verändern? Werden wir wirklich implantierte Computerchips haben, über die ein Teil unserer auch nichtsprachlichen Kommunikation laufen wird, wie es der Medienpädagoge Professor Stefan Aufenanger prognostiziert? Werden in Arbeitsprozessen eingesetzte Maschinen in naher Zukunft so miteinander im Team kommunizieren können, wie es bislang nur Menschen können? Das sagt Professor Sabina Jeschke , Spezialistin für Informationsmanagement im Maschinenbau, voraus. Und die sozialen Medien: Werden sie zur fünften Gewalt? Davon ist Bernhard Pörksen , Professor für Medienwissenschaft, überzeugt. Dass in 30 Jahren durch die veränderten Formen von Kommunikation die traditionelle Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit obsolet ist, womit nicht nur das Ende der Privatheit einhergeht, sondern vermutlich auch die Abschaffung der Demokratie, vermutet der Soziologe und Sozialpsychologe Professor Harald Welzer . Dazu fällt mir gleich die kürzlich im Spiegel veröffentlichte (Gegen-)These von Sascha Lobo ein: „Der Normalzustand sozialer Medien ist heute nicht mehr öffentlich. Es findet ein großer digitaler Rückzug ins Private statt.“ Letztlich, so unser Sofa-Fazit, sind die Prognosen im Bereich der digitalen Entwicklungen und ihrer individuellen und gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen vielfältig, die Ausschläge in jeder Richtung interessant, aber teilweise so hoch, dass es schwierig ist, zu realistischen Einschätzungen zu kommen. Manches hingegen scheint uns unstrittig, etwa dass die Datenmonopole geregelt werden müssen, wie es der Rechtswissenschaftler Professor Wolfram Schulz betont. In jedem Fall ist - jenseits allen Hypes - die Digitalisierung eine große und komplexe Aufgabe, auch und insbesondere politisch, gesellschaftlich, ethisch. Die Fragen sind: Wie wollen wir in Zukunft leben? Und was von dem, was machbar ist und sein wird, wollen wir wirklich umsetzen? Claudia Mauelshagen
von Hans-Peter Canibol 01 Aug., 2017
Das Verbreiten von Gerüchten und Falschmeldungen gehört zu den ältesten Mitteln der Macht. Früher waren nur wenige Teilnehmer involviert. Über die sozialen Netzwerke ist heute jeder Nutzer, sei es als Einzelperson, sei es als Unternehmen, als Partei oder Vereinigung welcher Couleur auch immer, sein eigener Newsproduzent und damit ein potenzieller Verbreiter von nicht verifizierten Inhalten. Während sich ausgebildete Journalisten und etablierte Medienhäuser einem Kanon von Rechten und Pflichten verpflichtet fühlen mit festen Spielregeln und Sanktionsmöglichkeiten, werden in den sozialen Netzwerke teils aus Unwissenheit, teils aus Berechnung zunehmend die Grenzen von Meinungsäußerung und Informationsverbreitung strapaziert. Die Auswahl von „Nachrichten“ reduziert sich dabei zu einem Spiegel der persönlichen Einstellung gegenüber Themen und Personen. Die Zigstelsekunden-Entscheidung für einen Mausklick bewegt sich jenseits jeder Quellenbewertung. Der Schneeballeffekt der Netzwerkverbreitung potenziert die Verbreitungsgeschwindigkeit gegenüber klassischen Medien. Parallel zu dieser Entwicklung nimmt das Vertrauen in die etablierten Medien ab. Die Diskussion um „Lügenpresse“ zeigte das Mitte 2016 deutlich. In einer Umfrage durch Infratest dimap von Januar 2017 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks hielten 42 Prozent der Befragten die Medien für nicht glaubwürdig, 37 Prozent gaben an, dass ihr Vertrauen in die Medien gesunken sei (6 Prozent: „ist gewachsen“, 57 Prozent „hat sich nicht so viel verändert“). Medienkenner befürchten für den anstehenden Bundestagswahlkampf eine bisher in Deutschland nicht gekannte „Schlacht“ um die Meinungshoheit im Netz. Da geht es nicht mehr nur darum, wer seine Parteimitglieder und Sympathisanten am besten mobilisieren kann. Es geht auch um eine technische Aufrüstung mittels Robotern, die sich hinter Nutzerprofilen verbergen. Und es geht um bewusste Diffamierung von Konkurrenten – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Klaus Methfessel hat im Whitepaper „Fake News“ , das Fakten + Köpfe im Frühjahr herausgegeben hat, drei fundamentale Thesen zum Umgang der Medien mit Fake News formuliert, an die sich die Medienschaffenden erinnern sollten, wenn sie das Thema mit Blick auf den Bundestagswahlkampf aufgreifen: Die einzigen wirklich wirksamen Mittel gegen Fake News sind auf Dauer die Vielfalt und der Wettbewerb der Medien. Die journalistischen Tugenden Recherchieren und Faktencheck geraten angesichts des Schnelligkeitswettbewerbs, in dem vor allem die Online-Portale stehen, ins Hintertreffen. Bei Fake News sind Journalisten nicht immer Opfer von bewussten Desinformations-kampagnen, sondern häufiger noch Opfer der eigenen Schludrigkeit.
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Gäckler, Gabenfresser, Juchheier: alte Wörter neu entdeckt

Claudia Mauelshagen • Juli 04, 2019

In die Wörterwunderkiste gegriffen

Anliebeln ist so ein Wort. Oder mieneln. Wörter, die es mal gab und die man gerne wieder in die deutsche Sprache einführen würde. Das entzückende Anliebeln bedeutete einst, „einen mit verliebten Augen ansehen“, mieneln meinte „die Mienen spielen lassen“. Das allerschönste aber ist entlästigen , das ich von heute an anlieble. Es ist der Gegensatz zu belästigen, es bedeutet so etwas wie „frei werden von“. Wunderbar! Ab sofort entlästige ich mich all meiner Arbeits- und weiteren Pflichten!

Peter Graf hat sie ausgewählt und auf 351 Seiten herausgegeben, lauter heute weitgehend unbekannte Wortschönheiten aus dem monumentalen Wörterbuch der deutschen Sprache von Jacob und Wilhelm Grimm. Die Märchenbrüder hatten die Arbeit am Deutschen Wörterbuch 1838 begonnen. Als es 123 Jahre später mit Band 33 abgeschlossen wurde, umfasste es über 320.000 Einträge auf 34.824 Seiten.

Wie bei mieneln gibt es weitere Verben, die wir heute nicht mehr kennen. Wir haben zwar teilweise das passende Substantiv, müssen aber das Tun mit seiner Hilfe umschreiben. Weil ich mich aller meiner Pflichten auf einen Schlag entlästige, verursache ich einen Tumult, früher hieß das kurz und bündig tumultuieren . Oder es gab, herrlich, spitzfindeln . Manches existiert auch heute noch, verschlampen zum Beispiel. Oder salbadern .

Nicht nur Verben, auch verschollene Substantive füllen die Seiten von Grafs Buch. Ein Ausruf ausgelassener Freude, der heute noch bekannt ist, aber so gut wie nicht mehr benutzt wird, ist „juchhei“. Im Bergischen geläufig ist noch heute „auf den Juchhei gehen“, wenn man ausgeht, um sich einen fröhlichen Abend zu machen. Getoppt wird das von dem Grimmschen Juchheier , welcher ein ausgelassener Mensch ist. Die Juchheier möchten einer Spezies gar nicht begegnen, und das sind die Freudenräuber . Ihnen geht man aber ganz generell lieber aus dem Weg, genau wie in eher akademischen Runden dem Gedächtnisgelehrten , da dieser mit seinem „blosz gedächtnismäßigem Wissen“ die Gesellschaft sehr ermüdet. Andere nervende Mitmenschen sind zum Beispiel die Ichlinge : die Egoisten. Oder die Gäckler , die ewigen Schwätzer, die einen zur Weißglut treiben. Wen man am besten gar nicht erst ernst nimmt, ist den Kurzdenker . Leider aber bevölkern Leute, die nicht weit denken, nicht nur den banalen Alltag, sondern bekleiden auch wichtige öffentliche Posten. Hier führen besonders die Gabenfresser ein angenehmes Leben, das sind Richter, die Bestechungen annehmen. Dieser Begriff könnte aber ohne weiteres eine Bedeutungserweiterung auf andere Berufsgruppen erfahren.

Ach, all die Freudenfresser, Gäckler, Kurzdenker und Gabenfresser: Sie verursachen mir - und damit komme ich zum Höhepunkt - eine große Gemütsabmattung. Ein Wort, das keinen erklärenden Eintrag erhalten hat und auch keinen benötigt. Solcherart gemütsabgemattet, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich von allem zu entlästigen.

Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch. Ausgewählt und herausgegeben von Peter Graf. Dritte Auflage 2018. Verlag Das kulturelle Gedächtnis , Berlin.

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