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Was ist nur mit uns los?

Hans-Peter Canibol, 17. September 2019

In größerem Rahmen Konsens herzustellen wird immer schwieriger. Man kann den Eindruck gewinnen, dass allein sportliche Großereignisse identifikationsstiftend sind, solche, hinter deren Erfolg mit weltweiter Bedeutung man sich versammeln kann. Aber auch das funktioniert nur noch in Grenzen.

Vor dreißig Jahren prophezeite der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, dass mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbrechen der sowjetischen Einflusszone und mit dem Triumph der liberalen Demokratie das Ende der Geschichte erreicht sei. In seinem neuen Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet „sucht Fukuyama nach Gründen“, so lesen wir auf dem Klappentext, der das Buch wunderbar zusammenfasst, „warum immer mehr Menschen sich von Autokraten angezogen fühlen und die Demokratie als gescheitert betrachten.“ Dabei gehe es weniger um materiellen Wohlstand als vielmehr um das Verlangen nach Würde. Der Autor „zeigt, warum die Politik der Stunde geprägt ist von Nationalismus und Wut, welche Rollen die linken und rechten Parteien bei dieser Entwicklung spielen und was wir tun können, um unsere Identität und damit die liberale Demokratie wieder zu beleben“.

Fukuyama greift damit ein Thema auf, das viele bewegt, denen das gesellschaftliche Miteinander am Herzen liegt. Denn eines wird deutlich: Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist in Frage gestellt. Werte werden nicht mehr unbedingt geteilt. Leitmedien haben ihre Funktion verloren – ihre Position als vierte Macht im Staat wird angegriffen, manchmal sogar tätlich. Die alten politischen Kräfte verlieren an Einfluss.

In größerem Rahmen Konsens herzustellen wird immer schwieriger. Man kann den Eindruck gewinnen, dass allein sportliche Großereignisse identifikationsstiftend sind, solche, hinter deren Erfolg mit weltweiter Bedeutung man sich versammeln kann. Aber auch das funktioniert nur noch in Grenzen. Was ist nur los mit uns?

Die Zeiten, in denen dem Volk par ordre du mufti verkündet wurde, wie man sich gefälligst zu verhalten habe, sind lange vorbei. Heute sehen wir etwas, das mal mit Schwarmintelligenz, mal mit alternativen Medien, mal mit Community umschrieben wird. Die Bürger hinterfragen die Glaubwürdigkeit der etablierten Meinungsführer so kritisch wie noch nie und verlassen sich tendenziell eher auf das, was Menschen sagen, die sie kennen oder zu kennen glauben.

Wie funktioniert Meinungsbildung in Zeiten einer atomisierten Medienlandschaft, in der Fakten und Meinungen miteinander verschmelzen und in der Meinungsbildner es zum Geschäftsmodell machen, mit der Spaltung der Gesellschaft zu spielen? Und wie wirkt sich Schwarmintelligenz aus? Verlagern sich Meinungsbildungsprozesse zukünftig auf eine Vielzahl von Communitys, die, geleitet durch nicht immer rationale Kriterien, ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder gemeinsame Identitäten entwickeln und diese als lautstarken Protest nach außen tragen, wie beispielsweise in Frankreich die Gelbwestenbewegung? Sie definieren sich durch ein unbestimmtes Unbehagen, beklagen Globalisierung und ein Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung, werden geeint durch eine vage Wut vor möglicherweise nicht recht einschätzbaren Lebensrisiken und Preiserhöhungen.

Francis Fukuyama sagte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (03.02.2019): „Ein verrückt gewordener Nationalist oder ein islamischer Terrorist sind moralisch nicht zu verteidigen. Aber ich bin doch der Meinung, dass all diese Bewegungen sich in ihrer psychologischen Struktur ähneln. In jedem Fall geht es darum, dass Leute finden, ihre eigene Gruppenidentität erfahre unzureichende Anerkennung.“

Die sozialen Medien mit ihren speziellen Mechanismen machen es möglich, dass man sich ausschließlich in seiner Echokammer bewegen kann, in der die eigene Meinung bestätigt und verstärkt wird, andere Meinungen hingegen gar nicht mehr auftauchen oder als „Angriff“ angesehen werden. Noch bis vor wenigen Jahren erfolgten kommunikative Maßnahmen im politischen Raum auf der Basis von Meinungsforschung. Wahlergebnisse ließen sich relativ genau vorhersagen. Heute treffen Wähler ihre Entscheidungen mitunter erst kurz vor Abgabe der Stimmzettel in der Wahlkabine. Die Aufregung um das Video des YouTubers Rezo ist uns allen noch präsent – lassen wir mal dahingestellt, ob es wirklich das Wahlergebnis nachhaltig beeinflusst hat.

Können Veränderungsprozesse heute rational, konfliktfrei und überzeugend erfolgen? Kann man die Mechanismen von professioneller Change-Kommunikation aus Unternehmen auf politisch-gesellschaftliche Prozesse übertragen? Was passiert, wenn Kommunikation nicht auf Augenhöhe stattfindet? Und welche Rolle spielen Wahrheit und Lüge für eine gelungene respektive misslungene Kommunikation? Die Debatte über diese Themen ist noch im Anfangsstadium. Unsere neue Publikationversuchtdas Terrain abzustecken und gibt Impulse für Lösungsansätze. Schauen Sie rein: Nachhaltige Kommunikation in unübersichtlichen Zeiten.

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