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Die Pandemie, der Wal und das Ende der Welt

Susanne-Theisen-Canibol, 05. Mai 2021

„Der Wal und das Ende der Welt“ des britischen Autors John Ironmonger ist eine wunderbare Parabel darüber, wie in Zeiten einer Pandemie ein Dorf zur Welt wird und die Welt zu einem Dorf. Geschrieben wurde es allerdings nicht unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, sondern bereits fünf Jahre zuvor.

Jonas Mikkel Haak, genannt Joe, Ende zwanzig, hat sich selbst aus seinem alten Leben als Wirtschaftsanalyst einer Londoner Privatbank herauskatapultiert. Aus der „City“ ins Dorf. Seine Abteilung macht täglich Millionengewinne mit Spekulationen auf fallende Börsenkurse. Dazu erstellt Joe die ökonometrischen Analysen, hat die Welt im Blick und bewertet mit Mitteln der Mathematik, wie sich Ereignisse auf Unternehmen und damit auch auf die Börsenkurse auswirken. Stolz ist er auf ein neues Computerprogramm, mit dem man sehr viel genauere Vorhersagen treffen kann, als bisher möglich. Es berücksichtigt nicht nur Daten aus aller Welt, sondern ergänzt sie mit Einschätzungen von Journalisten, Publizisten, anderen Finanzanalytikern. Damit gerät Joe in das Blickfeld des Bankengründers. Dieser lässt ihn immer neue Parameter in das Modell hineinrechnen, auch solche, die das menschliche Verhalten in bestimmten Situationen berücksichtigen.

Als Joe eine Grippepandemie in Asien ausbrechen sieht, die sich aggressiv und schnell global ausbreitet, scheint das System durchzudrehen. Gleich welche Empfehlung er seinen Kolleg(inn)en gibt, die Börsenkurse fallen nicht, sie steigen. Stunde um Stunde. Und mit ihnen die Verluste ihrer Abteilung für die Bank. In der tiefsten Überzeugung, dass sein ökonometrisches Modell versagt hat, verlässt Joe die Bank, setzt sich in seinen Sportwagen, fährt bis ans Ende der (Insel)Welt und versucht, sich im abgelegenen St. Piran im Meer zu ertränken – so gut wie unmöglich für jemanden, der in den skandinavischen Schären aufgewachsen ist und dem ein Finnwal den Weg abschneidet.

London in Grippeviren versunken, die Bank ruiniert, bleibt Joe wenig anderes übrig, als Teil des Fischerdörfchens zu werden. Und er macht das, was er am besten kann: vorausberechnen, was kommen wird. Wie wird sich die Grippeepidemie auf das Dorf auswirken? Und wie kann man die Einwohner schützen?

Ironmonger spielt mit Mythen und schafft es gleich zu Beginn des Buches, das Kopfkino anzuwerfen. Da ist zunächst der Name des Dorfes, St. Piran. Für Bewohner der britischen Insel assoziierbar mit einer der wichtigsten, heute weitgehend unter Flugsand begrabenen frühchristlichen Stätten, St Piran’s Lost Oratory mit dem markanten Kirchturm. Da liegt die Assoziation auf der Hand, dass der Wal Jonas, alias Joe, ausgespuckt hat, wie einst in der biblischen Erzählung. Oder steht er für den Leviathan? Das Seeungeheuer – dargestellt als eine Mischung aus Krokodil, Drachen, Schlange und Wal – ist Teil der christlich-jüdischen Mythologie. Für Thomas Hobbes war das unbesiegbare Fabeltier eine Metapher für den mit Allmacht lenkenden Staat. Für die moderne Finanzwissenschaft steht es für den freiheits- und wohlstandsvernichtenden bürokratischen Apparat.

In diese Dialektik stellt John Ironmonger seine handelnden Figuren. Er erzählt eine mitreißende Geschichte von Menschen in einer Ausnahmesituation. Er erzählt auch darüber, was uns als Menschheit zusammenhält. Bei ihm prallen nicht nur drei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die Dorfwelt, die Finanzwelt und der Klerus. Auf der Metaebene unterzieht Ironmonger die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes einem Praxistest in einer modernen Welt mit Charakteren aus dem Hobbesschen Universum. Am Ende zeigt sich, dass der Leviathan, alias Finnwal, in einer scheinbar ausweglosen Situation die Menschen nährt und diese das Geschenk, das gleichzeitig ein Opfer ist, dankbar annehmen.

Eine bereichernde Lektüre in diesen Corona-Zeiten.

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