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Über die Musik in journalistischen Texten

Susanne-Theisen-Canibol, 11. Oktober 2022


Vor dem Journalismus hatte ich ein anders Berufsleben: Musik, den ganzen Tag: Musik. Warum verweise ich darauf? Weil Musik und das geschriebene Wort ganz eng zusammenhängen. Nicht nur in der Poesie. Nicht nur in Liedern, Songs, Raps, Musicals, Opern. Wobei: Der Rap ist interessant. Er ist eben sehr viel mehr als reine „Plauderei“. Hier macht der Rhythmus im wahrsten Sinne des Wortes die Musik und nimmt Einfluss auf die Rezeption durch die Zuhörenden.

Als ich Ende der 1980er-Jahre sozusagen „das Fach“ wechselte, gab es viele, die nicht verstanden, warum ich mich zukünftig mit so schnöden Dingen wie Journalismus und Wirtschaftskommunikation abgeben wollte. Eine meiner Antworten damals: Ob ich auf Deutsch, Französisch oder „Musikisch“ ein Publikum erreiche, ist zwar eine Frage des Instrumentariums, nicht aber der grundlegenden Mechanismen.


Viele Jahre spielte dieses Thema keine Rolle mehr. Bis ich mir – es mag vier oder fünf Jahre her sein – beim Lektorieren von Fachartikeln einmal mehr die Frage stellte, wann das Geschriebene für mich ein guter Text ist. Ich arbeitete mich damals durch einen Ordner mit Fachartikeln. Die Dateinamen suggerierten eine „finale“ Fassung. Wie kommen Autorinnen und Autoren bloß auf die Idee, Texte als „final“ zu reklamieren, die weder Lektorat noch Korrektorat eines Verlags durchlaufen haben? Ein Geheimnis, das sich mir wohl nie lüften wird.


Lassen wir die Fälle beiseite, bei denen faktische Unschärfen eine Überarbeitung unausweichlich machen. Lassen wir die Fälle beiseite, in denen jemand allzu kreativ mit in der Profession anerkannten Regeln von Rechtschreibung und Zeichensetzung umgeht. Was macht das scheinbar Fertige eben doch so unfertig? Immer wieder begegne ich in der Lektoratsarbeit Texten, die auf den ersten Blick ok erscheinen, deren Qualität aber bei genauerer Analyse wie ein undichter Luftballon in sich zusammenfällt. Was passiert da? Sehr beliebt sind Sätze, ja ganze Absätze mit semantisch falschen Bezügen und Scheinkausalitäten. So, als ob ich mich in einem (klassischen) Musikstück nicht an die Regeln des Komponierens halten würde. Ein Trugschluss kann viel Spannung in eine Musikpassage hineinbringen. Er wird immer aber auch ausschließlich als dosiert eingesetztes Stilmittel angewendet.


Was mir in vielen Texten am meisten fehlt, sind Tempowechsel, kurze und längere Spannungsbögen. Vor allem aber vermisse ich Rhythmus.


Ich erinnere mich an eine Biografie über Alma Mahler-Werfel, durch die ich mich vor vielen Jahren als Leserin geradezu gequält hatte. Wäre die Person nicht so fesselnd, ich hätte das Buch nach spätestens 30 Seiten zur Seite gelegt und nicht weitergelesen. Es war eine Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch. Die Sätze bestanden seitenweise aus kaum mehr als Subjekt, Prädikat und Objekt. Hauptsätze wurden allenfalls um einen Relativsatz erweitert.


Mit einer Aneinanderreihung von Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätzen oder Sätzen mit immer gleichem Satzaufbau erreichen wir bei Leserinnen und Lesern ähnlich wenig Aufmerksamkeit wie mit Schachtelsätzen oder der inflationären Anwendung von englischen (Fach-)Begriffen.


Mir ist es zu wenig, wenn wissens- und informationsvermittelnde Texte ausschließlich darauf setzen, dass der Inhalt allein das Interesse hochhält. Als Journalistin, Lektorin und Verlegerin ist es mir wichtig, dass auch solche Texte mehr sind als die Aneinanderreihung von Wörtern in einem bestimmten Sinnzusammenhang. Auch Fachartikel brauchen Tempowechsel, Spannungsbögen und Rhythmus. Sie brauchen Musik. Denn nur dann funktioniert die Kommunikation zwischen Text und Rezipierenden.


Zuerst veröffentlicht in: Literatur-Reader für Groß-Gerau und die Region, Groß-Gerau, Oktober 2022

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