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Der Gatekeeper ist zurück

Matthias Dezes, 19. Mai 2020

Lock-down, Infektionskurven, Social Distancing: Nur drei von zahlreichen neuen Vokabeln, die uns seit März auf Schritt und Tritt begegnen. Haben die Leitmedien einen guten Job während der Corona-Krise gemacht? Die Bestandsaufnahme zeigt: In der Krise steigt der Bedarf nach professionell aufbereiteten Informationen.
Ich bin seit 25 Jahren in der PR, berate internationale Finanzdienstleister und Kanzleien, bin unterwegs in Kapitalmarkt-Themen und Restrukturierungen, und mit Gesundheits-Themen hatte ich beruflich allenfalls im Zusammenhang mit Krankenhaus-Privatisierungen zu tun. Nun aber sind wir, wie Gabor Steingart am 6. Mai bei „Maischberger – die Woche“ formulierte, eine „Nation von Virologen“ geworden. Selbst wenn man wollte, kann man sich dem Thema nicht entziehen. Finanzthemen laufen fast nur noch, wenn sie einen Corona-Bezug haben, und für Kanzleien sind rechtliche Probleme rund um Impfstoffe gegen Covid-19 zurzeit ein Positionierungsthema, das fast alles andere aus dem Rennen schlägt. Ich bin sicher, dass es Ihnen, egal, für welche Branche Sie arbeiten, ganz genauso geht.

„Der Tod des Gatekeepers“ revisited
Vor rund einem Jahr veröffentlichte ich einen Artikel unter dem Titel Der Tod des Gatekeepers. Ich war besorgt, weil die Leitmedien nicht nur an Aufmerksamkeit, Auflage und Reichweite verloren hatten. Auch Ansehen und Vertrauen waren beschädigt. Das Agenda-Setting, also die Entscheidung darüber, was relevant und berichtenswert ist, hatten bei vielen Themen andere übernommen: In der Debatte um die Reform des Urheberrechts waren es Initiatoren aus dem Social Web, die den Takt vorgaben. Und an der Zerstörung der CDU versuchten sich 2019 nicht etwa Stern und Spiegel, sondern ein Blogger namens Rezo.

Vor allem für das Publikum unter 30 war die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Sender sowie der überregionalen Presse im freien Fall. Und das hatte nicht allein mit veränderten Lebens- und Informationsgewohnheiten zu tun. Der Bedeutungsverlust war auch selbstverschuldet: Von dem einstigen Augstein-Claim „Sagen, was ist“ hatten sich nicht nur Teile des Spiegels verabschiedet. Und das sah so aus: Während die einen Reportagen veröffentlichten, die besser als Fantasy-Geschichte erschienen wären, verengten andere das Meinungsspektrum auf das vermeintlich wünschenswerte Ausmaß. Sowohl während der Euro-Rettung als auch in der Flüchtlingskrise schien es, als reihten sich weite Teile der Medien hinter dem „Alternativlos“-Credo der Kanzlerin ein. Dass die Flüchtlingswelle auch Gefahren mit sich bringen könnte, war lange Zeit ein Tabu-Thema. Zwar entschuldigte sich die ZEIT 2016 für ihre einseitige Sicht auf das Thema Flüchtlinge, und der Spiegel spürte der Gemütslage seiner Leser in einer groß angelegten Befragung nach. Doch der Schaden war da, und er zeigte sich in sinkenden Auflagen und einem auch in Umfragen geäußerten Vertrauensverlust.

Wie die Medien ihre Rolle als Gatekeeper wieder zurückerobern können, schrieb Jay Rosen, Journalistik-Professor an der New York University, im Sommer 2018 in einem offenen Brief an die deutschen Redaktionen: „Als Journalisten haben Sie nicht die Aufgabe, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen. Ihre Aufgabe ist es, sie auf Dinge aufmerksam zu machen, über die sie nachdenken sollten.“

In der Krise steigt der Bedarf nach professionell aufbereiteten Informationen
Und jetzt? Die Welt, wie wir sie kannten, ist in ihren Fundamenten erschüttert, es gibt keine Gewissheiten mehr, bis auf eine: Das Danach wird kaum so sein wie das Davor.

In einer Situation völliger Unsicherheit greifen die Menschen oft zu dem, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Bis vor kurzem aktuelle Trends hingegen treten in den Hintergrund. Rezo ist zwar weiterhin aktiv, doch Debatten löst er keine mehr aus. Dafür ist das Interesse an den etablierten Medien rasant gestiegen. Hier ein paar Zahlen:
•    ZDF heute hatte zwischen dem 16. März und 27. April 5,7 Millionen Zuschauer; im Jahresschnitt 2019 waren es 3,6 Millionen Zuschauer.
•    ZDF heute-journal hatte zwischen dem 16. März und 27. April 4,8 Millionen Zuschauer; im Jahresschnitt 2019 waren es ebenfalls 3,6 Millionen Zuschauer.
•    Die Reichweiten der digitalen Zeitungsangebote sind seit Januar um 65 Prozent gestiegen.
•    Die E-Paper-Auflagen haben im ersten Quartal 2020 im Vergleich zum Vorjahresquartal um gut 14 Prozent zugelegt.

Das Vertrauen ist also zurück. Mag sein, dass Shutdown, Kurzarbeit und Homeoffice dazu führen, alte Gewohnheiten wiederaufzunehmen: morgens die Zeitung, abends lineares TV-Lagerfeuer mit Claus Kleber oder Caren Miosga als Gäste im eigenen Wohnzimmer. Doch den neuen Bedarf an verlässlicher Information sollten die Medien als Chance sehen, die über die Krise hinaus genutzt werden muss.
Ach ja, und einen neuen Star hat die Krise ebenfalls hervorgebracht: Die funk-Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim zeigt, dass Wissenschaftsjournalismus auf Youtube funktionieren kann. Eingängig aber nicht banalisierend, ernsthaft aber doch unterhaltend macht sie ihre Zuschauer auf Gefahren und Perspektiven in der Krise aufmerksam. Inzwischen legt sie sich in Talkshows der öffentlich-rechtlichen mit den Virologen Streeck und Kekule an, und auch faz.NET postet ihre Videos. Qualität setzt sich eben durch.


Medien setzten sehr früh eine Anti-Corona-Agenda
Ohne Zweifel hat der professionelle Journalismus Terrain zurückerobert, und das liegt nicht allein an der bedrohlichen Gesamtsituation. Die Redaktionen haben sich auf das fokussiert, was guten Journalismus ausmacht:
•    zeigen, was ist;
•    einordnen;
•    analysieren, nachfragen, offen sein für alle relevanten Aspekte;
•    die Agenda aktiv mitgestalten und sich nicht einfach nur einreihen.

Natürlich gab es auch in den Medien einen Moment der Schockstarre. Das war zu Beginn des Lockdowns, als alle Beteiligten extrem besorgt waren, wie es weitergeht. Doch schon unmittelbar im Anschluss äußerten die Ersten ihre Zweifel – und die Medien gaben ihnen einen Resonanzraum. Auch fand innerhalb der Redaktionen sehr schnell eine eigene Positionsbestimmung statt. So entschied sich das Handelsblatt sehr schnell, für eine Exit-Strategie zu kämpfen, während der Spiegel eher auf Sicherheit setzte. Auch die Süddeutsche verortete sich hier. Doch Heribert Prantl, Jurist und lange Jahre Mitglied der Chefredaktion, zeigte sich als unermüdlicher Kritiker der Einschränkung von Grundrechten.

Zusammengefasst: Kaum ein kritisches Thema wird diesmal ausgelassen. Es gibt eine Meinungsvielfalt, die im Herbst 2015 den Leitmedien manchen Ansehensverlust erspart hätte. Unter den vielen Stimmen, denen die Medien eine Plattform boten, war die der parlamentarischen Opposition eine der leisesten – leider!

Umgang mit Zahlen und Narrativen
Nun ist nichts perfekt, und in der Tat gibt es ein paar Punkte, die ich mir noch anders wünschen würde:
1.  einen durchdachteren Umgang mit Zahlen und
2. einen kritischeren Umgang mit den zwei Narrativen „Omnipotenz des Staates“ und „Allwissenheit der Wissenschaft/Virologen“.

Die europäische Dimension spielte in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Ein Grund war sicherlich, dass die EU als Akteur kaum sichtbar war. Aber ich hätte mir mehr Beiträge gewünscht, die zeigen, wie man die Krise gemeinsam bezwingen kann.

Dennoch bleibe ich dabei: Die Themen der Krise werden mit großer Sorgfalt aufgearbeitet. Große Fehlleistungen sind ausgeblieben. Der tägliche Tsunami an Daten und Bildern, Statements und Meinungen wird sauber strukturiert, es wird nachgefragt und Unsinn weitgehend herausgefiltert. Und selbst für Gespräche mit Anhängern von Verschwörungstheorien liefern Redaktionen ihren Lesern das notwendige Rüstzeug.

Die Gatekeeper sind zurück...
... und sie sind lebendig wie nie zuvor. Bleibt zu hoffen, dass die Medien das neu gewonnene Vertrauen im Sinne ihres Publikums nutzen. Dazu gehören:
1.    bei den Inhalten weiter auf Qualität setzen; sagen, was ist; zum Nachdenken anregen;
2.   Plattformen und digitale Angebote, die alle relevanten Zielgruppen ansprechen;
3.    Geschäftsmodelle, die uns allen auch in Zukunft den Zugang zu verlässlichen Informationen sichern.
Es lohnt sich, die Debatte fortzusetzen – ob mit oder ohne Corona-Krise.

Der Beitrag, der hier gekürzt wiedergegeben ist, war Diskussionsgrundlage eines Webinars der DPRG Baden-Württemberg am 7. Mai 2020. Die vollständige Fassung können Sie hier abrufen >>

Matthias Dezes ist Inhaber der Kommunikationsberatung Dezes Public Relations, die internationale Banken und andere Finanzdienstleister, Wirtschaftskanzleien sowie Unternehmen aus der Energie- und Immobilienbranche berät.

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